Diese EM hat einen fahlen Nachgeschmack.
Zu langweilig, sagen einige, und treten dabei meist für eine Reduktion der teilnehmenden Mannschaften ein. Also wieder zurück auf 16 Mannschaften. Die Qualität hätte unter der Teilnehmerzahl von 24 gelitten.
Zu langweilig, sagen einige, und meinen damit ausdrücklich die Spielweise der meisten Teams. Zu defensiv. Zu wenig dazu getan, das Spiel zu entscheiden. Oder überhaupt gewinnen zu wollen.
Aber hat sich dabei irgendwas geändert? Stellt sich diese Beobachtung oder dieses Gefühl nicht nach jedem größeren Fußballturnier ein?
Ein großes Turnier mit vielen herausragenden Spielszenen in der Offensive, spektakulären Kopfbällen oder torverhindernden Tacklings ist äußerst selten. Gleichsam ein Wunschdenken, das, getrieben von einer naiven Vorfreude, meist spätestens nach der ersten Turnierwoche der Enttäuschung gewichen ist. Wenige Treffer entscheiden meist, die Spiele sind insgesamt oft eher mau.
Blicken wir nur mal auf die Finalspiele der letzten Turniere zurück: Bei der Copa America 2016 – heuer erstmals in den USA mit einem ebenfalls erweitertem Starterfeld ausgetragen – ging Chile nach Elfmeterschießen als Sieger vom Platz. Genauso wie schon im Vorjahr bei der Copa America 2015. Die WM 2014 wie auch die WM 2010 wurden durch ein einziges Tor in der Verlängerung entschieden. Die EM 2012 gewann Spanien eindeutig mit 4:0 im Finale. Den Pokal der Copa America 2011 holte sich Uruguay mit einem finalen 3:0. Die EM 2008 wurde wiederum durch ein einziges Tor (nach 90 Minuten) entschieden.
Nur nicht Verlieren
Bei der letzten WM in Brasilien 2014 wurde zudem die Hälfte der Entscheidungsspiele im Elfmeterschießen oder nach Verlängerung entschieden. In 6 (von 16) Entscheidungsspielen stand es nach 90 Minuten 0:0. In weiteren 2 entschied lediglich 1 Tor. Und in 2 weiteren Spielen hieß es 1:1.
Bei den letzten EM- und Copa America-Turnieren verhält es sich ähnlich, wenngleich nicht so extrem. Andere Kontinentalbewerbe, wie der Afrika Cup oder der Asian Cup zeichnen ein ähnliches Bild. Wenig Tore in Entscheidungsspielen, häufig entschieden in Elfmeterschießen.
Insofern lief alles normal, wenn nicht sogar eine Spur besser, bei dieser Euro 2016. Und will man mehr Tore sehen, oder Teams, die versuchen zumindest ein Tor zu erzielen, müsste man wahrscheinlich Regeländerungen (zumindest für Turniere) anstreben.
Turniermodus richtig?
An zielführenden Ideen mangelt es nicht. Wenn man nicht möchte, dass in der Gruppenphase eines Turniers eine Mannschaft mit drei Unentschieden aufsteigt (und später eventuell das Turnier gewinnt) muss man nur einen Sieg noch höher bewerten, um mehr Dynamik in ein Spiel zu bringen. Also etwa 4 Punkte für einen Sieg. Wobei in dieser Überlegung mathematisch betrachtet 3,1 Punkte genügen würde.
Das Elfmeterschießen in einem Entscheidungsspiel könnte auch schon zu Beginn ausgetragen werden. Erst danach startet das eigentliche Spiel. Der Verlierer würde sich mehr anstrengen müssen zumindest ein Tor zu schießen. Der Gewinner des Elferschießens könnte natürlich seine Strategie ab der 1. Minute aufs Mauern und Kontern auslegen. Doch eine Menge Teams tun das jetzt schon. So muss zumindest eine der beiden Mannschaften eine offensivere Strategie wählen.
Eine andere Überlegung wäre anstatt 6 Gruppen zu je 4 Mannschaften einfach 4 Gruppen zu je 6 Mannschaften zu bilden. Wobei nur die zwei besten Teams aufsteigen sollten und somit die K.o.-Phase gleich wieder mit Viertelfinal-Spielen beginnt. Das würde schlechter spielende Teams kaum in ein Viertelfinale bringen, allerdings die Anzahl der Spiele in der Gruppenphase nahezu verdoppeln. Dieser Grundgedanke wäre daher in einer Teilnehmerzahl von insgesamt 20 Teams und 4 Gruppen zu je 5 Teams realistischer in Umsetzung zu bringen.
Die UEFA (oder adäquat ein anderer Kontinentalverband oder die FIFA) wird frühestens in 8 Jahren über solche (oder ähnliche) Regeländerungen abstimmen. Es scheint, dass diese Spielweise und Resultate, wie wir sie in den letzten Jahren sehen, bei vielen Funktionären in mehreren Ländern genauso gewollt sind. Daher ist aus heutiger Sicht selbst bei einer derartigen Abstimmung keine Regeländerung zu erwarten, die mehr Fußballspektakel zulässt. Entscheidungsspiele mit wenigen Toren und Elfmeterschießen bleiben uns höchstwahrscheinlich erhalten.
Dichte Abwehrketten
Ein Trend ist auch bei dieser Euro 2016 sehr deutlich zu erkennen. Die Spieler jeglicher Nationalität und Spielstärke sind in ähnlich hervorragender athletischer Verfassung und taktisch beinahe gleich gut ausgebildet. So gelingt es der verteidigenden (nicht ballführenden) Mannschaft sehr rasch 9 oder sogar alle 10 Feldspieler hinter den Ball zu bringen. Und das meist über 90 Minuten. Die angreifenden Teams, auch die technisch Versierten, haben darauf noch keine wirklich funktionierenden Antworten gefunden. Die Geschwindigkeit im Angriff kann (noch) nicht adäquat gesteigert werden. Man stößt an die Grenzen der Physik. Ein Passspiel mit einer halben Berührung gibt’s halt nicht. Eine Mannschaft kann sich oder den Ball nicht permanent schnell bewegen.
Die Deutschen zeigten vielleicht am schönsten, wie solche dichten Abwehrketten auszuspielen sind. Sie spielten schnelle Dreieckspässe und dabei relativ scharf in die Spitze. So sucht man neue Räume, mit dem Ziel einen kontrollierten Flachpass als direkte Vorlage zu platzieren. Wenn das nicht möglich ist, bietet sich alternativ dazu an die Verteidigung zu überheben. Das ist technisch gesehen sehr anspruchsvoll und in der Ausführung alles andere als leicht. Deshalb gelingt es auch noch nicht immer bei hohem Tempo. Und erfolgreich ist man auch erst, wenn die erspielte Torchance auch verwertet wird.
Direkter und mitunter noch schneller sind solche Spielzüge, wenn sie als lange hohe Bälle hinter die Verteidigung ausgeführt werden. Das konnten wir von mehreren Mannschaften sehen. Die Italiener oder Franzosen waren damit oftmals erfolgreich.
Überraschungen
Interessant auch, wie viel sich eher kleinere Teams einfallen lassen, um die Gegner zu überraschen. Wir postulieren dies ja in der Überraschungstheorie als einen erfolgsversprechenden Spielfaktor. Noch interessanter ist freilich, dass die Überraschungsmomente bei dieser EM durch eintrainierte Standardsituationen wiederholt zur Geltung kamen. Zwei spezielle Spielmomente möchten wir herausgreifen:
Die Eckbälle von Wales, wo sich die Angreifer etwa 12m vor dem Tor in einer Vertikalen aufreihen, um dann scheinbar wild und wirr durch den Strafraum zu rennen und sich gute Kopfballpositionen suchen. Und zweitens die weiten Einwürfe des isländischen Kapitäns, fast bis zur Mitte, per Kopf verlängert, um dann direkt zum Torschuss zu kommen. Das Überraschendste dabei, es funktionierte gegen fast alle Gegner der Isländer und selbst die Engländer und dann auch noch die Franzosen waren aufs Neue überrascht.
Ergänzend dazu noch eine andere Beobachtung bei dieser EM: Teams, die vor einer Begegnung scheinbar nichts zu verlieren haben, als krasse Außenseiter in eine Partie gehen, spielen beherzter, mutiger und, so es der Spielverlauf erlaubt, größerem Zug zum Tor. Bei den vermeintlichen Favoriten hingegen regiert die Angst, Fehlpässe und technische Fehler selbst erfahrener Spieler häufen sich, die Spielfreude kommt erst gar nicht auf. Überraschungsmomente werden bei diesen Teams scheinbar auch nicht eingeübt.
Und irgendwie ist es ja auch schön, wenn Underdogs bei einem Turnier aufzeigen können. Wenn ein David den Goliath besiegt. Das absolut Unerwartete eintrifft. Solange es nicht die eigene Mannschafft trifft, könnte man als Engländer, Belgier oder Österreicher hinzufügen. Fußball ist bekanntlich jener Mannschaftsballsport mit den wenigsten Zählpunkten, daher sind unerwartete Resultate auch immer wieder an der Tagesordnung. Speziell bei einem Turnier, und dort speziell in der K.o.-Runde.
Einzig Fernando Santos hat sich nicht überraschen lassen, ist seinen Weg gegangen. Nach den ersten Spielen hat er noch behauptet, erst am 11. Juli mit dem Team nach Hause zu fahren. Zu diesem Zeitpunkt hat so gut wie niemand an einen Finaleinzug der portugiesischen Mannschaft geglaubt. An einen Erfolg im Finale wahrscheinlich auch nicht mal die anderen Betreuer.
Zeus heißt wohl Fernando im Vornamen
Fernando Santos hingegen hat diese Geschichte geschrieben. Von Anfang an im Fokus, an den finalen Erfolg geglaubt. Einer, der die Moiren also außer Kraft setzen konnte und sein Schicksal selbst in die Hand nahm. Seine EM-Bilanz als Teamchef von Portugal inklusive der Qualifikationsspiele: Europameister, 11 Siege – 3 Unentschieden – 0 Niederlagen.
Auch wenn fast kein Experte Portugal vor dieser Euro 2016 als Titelgewinner gesehen hat: Fernando Santos und sein Team sind verdient Europameister geworden und in der Spielweise nicht mit Griechenland 2004 oder dem Glück von Italien 1968 zu vergleichen.
Im Fußball gewinnt bei einer Endrunde die Mannschaft mit dem größten Willen Geschichte zu schreiben, mit aller Kraft die Verheißung der Moiren zurückzuweisen.
Antoine Griezmann hätte diese Geschichte schreiben können. Dimitri Payet hätte sie schreiben können. Cristiano Ronaldo und sogar Will Griggs. Jogi Löw, Manuel Neuer, Gareth Bale, Chris Coleman, Aron Gunnarsson. Sie alle hätten die Geschichte der Euro 2016 schreiben können.
Ohne das Turnier zu wiederholen: Fernando Santos hat sie geschrieben.
Und sie schmeckt.
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