Eine der schönen Seiten am Fußball ist seine scheinbare Unvorhersehbarkeit (man denke an Leicester 2015/16 und diverse Überraschungserfolge isländischen Ausmaßes).
Aber das Spiel selbst ist voll von Vorhersehbarkeiten – zumindest was Entscheidungen und Spielmuster anlangt.
Stell dir vor, du liegst in einem Semifinale 1-0 in Führung, es geht noch 5 Minuten. Du wirst einen Angreifer mit einem Verteidiger oder einen defensiven Mittelfeldspieler ersetzen.
Stell dir vor, du verteidigst gegen Arjen Robben. Er wird von rechts nach innen ziehen und mit links Schießen.
Die Vorhersehbarkeit geht so weit, dass es auch leicht in Zwangsläufigkeit ausartet. Manche Entscheidungen, Muster oder Ansätze können unveränderlich sein.
Das macht in vielen Fällen auch Sinn: Robben schneidet nach innen und schießt weil er so einfach Tore schießt. Und einen Verteidiger mit einem zusätzlichen Stürmer zu ersetzen, wenn die Uhr deinen 1-0 Sieg runterzählt, würde nichts anderes als Fußballblasphemie bedeuten – eine Ablehnung lang etablierter Regeln und Weisheiten. Vor dem Stadion würden sich Massen mit Fackeln und Heugabeln bilden und den Trainer zum nächsten Scheiterhaufen treiben.
So eine Entscheidung wäre daher … krank? Dumm? Kontraproduktiv?
Oder vielleicht innovativ? Inspiriert? Spielverändernd?
Wir behaupten, dass der Überraschungseffekt ein weit unterschätztes und zu selten verwendetes Fußballprinzip darstellt. Eine Entscheidung oder Aktion, die einfach unerwartet ist, kann den Spielfluss unterbrechen, dem Spiel eine neue Richtung geben, und die Gegner täuschen. Er beinhaltet aber nicht bloß „überraschende“ Entscheidungen oder Aktionen, sondern auch unkonventionelle, gegen die Intuition sprechende und innovative Aspekte.
Beispiele für angewandte Überraschungseffekte:
- Taktische Veränderungen und Entwicklungen (z.B. die Startaufstellung)
- Eingeübte Formationsbewegungen (z.B. innovative Eckball-Abläufe)
- Trainerentscheidungen im Spiel (z.B. eine gegen-intuitive Auswechslung)
- Individuelle Entscheidungen (z.B. früher als erwartet Schießen)
- Umgebungssteuerung (z.B. geändertes Spielererscheinungsbild oder Fanchoreographien)
Wir werden all diese Varianten in künftigen Artikeln zum Überraschungseffekt beleuchten.
Die Vorteile
Es liegt auf der Hand, dass der Überraschungseffekt zu einem unmittelbaren und direkten Vorteil führen kann, was am besten anhand eines neueinstudierten Freistoßtricks, der zu einem Tor führt, illustriert wird.
Noch dazu kann er zwei der Schlüsselfaktoren einer Spieler- bzw. Teamperformance stören: Selbstvertrauen und Routine. Wenige Spieler und noch weniger Teams haben die Flexibilität, Intelligenz oder entsprechende Übung, um unerwartete Szenarien schnell zu adaptieren. Die Gegner verhalten sich eher wie bei einem frühen Versuch von Künstlicher Intelligenz, sobald sie mit der Litanei an menschlicher Irrationalität konfrontiert sind: sämtliche Alarmsignale leuchten und niemand weiß sie auszuschalten.
Bei den Gegnern Konfusion zu säen und ihnen die Kontrolle über das Spiel zu entziehen hat deutlichen Nutzen. Der Überraschungseffekt kann sogar als Anti-Moirai-Mittel dienen, indem er scheinbar zwangsläufig jene Zuversicht unterbricht, die der Macht der Vorbestimmung unterliegt.
Die Macht der Gewohnheit ist im Fußball so stark, dass der Überraschungseffekt selbst noch dann funktioniert, wenn die Entscheidung oder die Aktion selbst gar keine wirkliche Überraschung mehr ist. Islands lange Einwürfe bei der EURO 2016 überraschten selbst die Gegner in der späteren K.O.-Runde.
Ähnliches kann über die walisische Eckball-Taktik gesagt werden. Die gegnerischen Teams hatten darauf keine Antwort, nicht mal im Viertelfinale.
Die erfolgreiche Anwendung des Überraschungseffektes kann außerdem die Teamzusammengehörigkeit verbessern oder einfach die Spielfreude ergänzen.
Die Herausforderungen
Allerdings können die gleichen Eigenschaften, die der Überraschungseffekt bedient, damit ein Team davon profitiert, genauso gut nach hinten losgehen. Wenn zum Beispiel eine ungewöhnliche Auswechslung vom ausführenden Team nicht klar abgesprochen und angenommen wird, dann unterläuft womöglich dieser Überraschungseffekt das eigene Selbstvertrauen und die Spielgestaltung in gleichen Maßen wie die des Gegners.
Daher sind die Anpassungsfähigkeit und der Wille das Unerwartete zu „erwarten“ oder anzunehmen unheimlich wichtige Eigenschaften, um aus dem Überraschungseffekt (und seinem Einfluss zu widerstehen) Vorteil ziehen zu können. Speziell mannschaftsbasierende Überraschungseffekte benötigen eine hinlängliche Vorbereitung.
Diese volle Anpassungsfähigkeit und Spielintelligenz hilft zudem unbeabsichtigte Überraschungseffekte zu meistern. Wenn etwa zwei Spieler die gleiche Frisur haben, wie es bei David Alaba und Kingsley Coman bei Bayern München 2015/16 der Fall war, könnte das eben nicht nur den Gegner verwirren (insbesondere, wenn die Spieler beinahe identische Rückennummern tragen und eine ähnliche Statur haben).
Der Überraschungseffekt erfordert (natürlich) selektive und intelligente Ausführung. Hier beschreibt ein uns bekannter Spieler die Eigenschaften eines Mitspielers, der (im Spielsystem) vor ihm spielt:
„Der gegnerische Verteidiger weiß nie, was er als nächstes mit dem Ball macht. Ich bin nicht mal sicher, ob er selbst weiß, was er als nächstes mit dem Ball machen wird. Daher ist es beinahe unmögliche gegen ihn zu verteidigen. Aber genauso schwierig ist es mit ihm zu spielen, weil man nie weiß, welchen Laufweg er nimmt und wo man sich selbst hinbewegen soll, um anspielbar zu sein.“
Im dabei einzusetzenden Risiko liegt aber vielleicht die größte Hemmung dieses Prinzip häufiger anzuwenden.
Das erste Risiko besteht darin, dass eine schwache Ausführung zu einem erheblichen Nachteil im Spiel führt, vielleicht sogar zu einem Gegentor. Man macht sich keine Freunde in der eigenen Mannschaft, wenn etwa der versuchte Rabona schief geht und ein gewöhnlicher Pass genauso eine Option gewesen wäre.
Das zweite Risiko liegt in der möglichen Schmach, speziell bei deutlich sichtbaren Entscheidungen, wie zum Beispiel Auswechslungen, Freistößen und taktischen Formationen.
Wenn dabei die Überraschung nicht funktioniert, bekommt der Initiator – normalerweise der Trainer – Missbilligung zu spüren, mitunter Demütigungen, eben dafür, nicht das Erwartete getan zu haben.
Bei der WM 2014 versuchte Deutschland einen Freistoßtrick: Thomas Müller täuschte beim Anlauf ein Stolpern, um hinter die Mauer zu laufen und (hoffentlich) einen Lupfer vom tatsächlichen Freistoßschützen verwerten zu können. Der Trick misslang, weil Toni Kroos den Ball nicht über die Mauer brachte:
Die Reaktion?
USA Today titelte “Deutschlands misslungener Freistoßtrick ist das Peinlichste der WM“, Blick nannte es „lächerlich“ und Online Kommentatoren reagierten ähnlich:
Der schlechteste Freistoß in der Geschichte der WM … Deutsche Ineffizienz! (Quelle)
Der schlechteste Freistoß aller Zeiten. (Quelle)
Möglicherweise liegt daher das Geheimnis in der Anwendung des Überraschungseffektes darin, ausreichend über genau jene Eigenschaft zu verfügen, die es versucht zu unterlaufen: Selbstvertrauen.