Über die wahrscheinlich wichtigste Position in der Premier League
In der nachsaisonalen Betrachtung eines Meisterteams wird sehr gerne und schnell vom besten Torschützen, vom Spielmacher und/oder wichtigsten Vorbereiter, meinetwegen auch vom Tormann als Meistermacher gesprochen.
Dabei ist die wichtigste Position im Team heutzutage am ehesten der Sechser. Allerdings wird er in der Analyse als Meistermacher kaum gewürdigt und vielfach übersehen. Obwohl es auch von den Experten immer wieder bemerkt wird, wenn der Sechser gerade nicht am Platz steht, insbesondere, wenn es sich um eine meisterschaftsentscheidende Phase handelt. Denn Meisterschaften werden bekanntlich in einer Phase von 3 bis 5 aufeinanderfolgenden Spielrunden entschieden. Speziell in dieser Phase sind die Schlüsselfiguren, die Meistermacher, gefragt.
ch mag Inspektor Columbo und seine Art, wie er Mordfälle löst. Und ganz besonders, wenn er das anhand von Abwesenheiten als Beweismittel tut. Also Dinge, Gegenstände, Geräusche oder Personen, die da sein sollten, die aber zur Tatzeit nicht da gewesen sind. Und nur weil sie nachweislich nicht vorhanden sind, kann er den Fall lösen.
Im Fußball ist das nicht anders.
Einfaches Beispiel: wenn Lionel Messi nicht spielt und der FC Barcelona verliert, heißt es in Kommentaren und Analysen sofort Messi habe eben gefehlt. Ähnliches mag derzeit auch für Harry Kane-Tottenham Hotspur oder Mohamed Salah-FC Liverpool gelten. So leicht, so gut. Und oft greift es viel zu kurz – und ist einfach falsch. Offenbar allein schon deshalb, weil man selbst ohne ein einziges Tor zu schießen nicht zwingend ein Spiel verliert. Einen Mittelstürmer, der noch dazu nicht am Platz steht, kann man nicht wirklich für eine Niederlage verantwortlich machen.
Fehlt hingegen der Sechser im Team, und ein oder mehrere Spiele gehen verloren, bedeutet das meistens auch, dass dieses Team die Meisterschaft gar nicht gewinnen kann. Ohne Sechser geht die defensive Ordnung verloren und das Aufbau- bzw. Umschaltspiel funktioniert nicht wie gewohnt.
Englische Top-Teams und ihre Sechser
Jetzt gibt es bei einigen Top-Mannschaften in der Premier League einen solitären, echten Sechser, bei anderen eine Doppel-Sechs, oder einen rotierenden Sechser. Dort, wo es den einen Sechser gibt, ist er natürlich umso wichtiger. Und wenn er dann mal fehlt, wird es gefährlich. Denn in den allermeisten Fällen kann er nicht so einfach ersetzt werden.
Der Sensationsmeister von 2016 – Leicester City – ist uns allen noch gut in Erinnerung. Wir haben noch die vielen sehenswerten Tore und Angriffe von Jamie Vardy und Ryad Mahrez im Kopf, denken an tolle Paraden von Kaspar Schmeichel und hier in Österreich besonders gerne an super Freistöße, Flanken und Einwürfe von Christian Fuchs. An Aktionen des Sechsers dieses Sensationsteams erinnern wir uns hingegen kaum. Und als am Ende der Meisterschaft das Team auseinanderzufallen drohte, ging es den Clubverantwortlichen vor allem darum, die in ihren Augen wichtigsten Spieler zu halten. So waren zunächst alle im Verein froh, dass die Meistermacher Vardy, Mahrez und Schmeichel weiterhin im Team blieben.
Den Sechser allerdings ließ man ziehen. Sein Name: N‘Golo Kanté. Wie sehr er Leicester City in der darauffolgenden Saison fehlte, sah man bereits nach ein paar Spielrunden und spätestens als Meistertrainer Claudio Ranieri Leicester City nach 25 Spielrunden und 14 Niederlagen, auf Tabellenplatz 15 liegend, verlassen musste, war allen klar, dass dieser N‘Golo Kanté mit seinen Qualitäten nicht annähernd ersetzt werden konnte.
Aus Sicht der Vereinsführung vielleicht noch schmerzhafter war die spätere Tatsache, dass FC Chelsea mit N’Golo Kanté Meister wurde. Und so kam es auch, dass der beste Sechser der Premier League in dieser Saison 2016/17 von der FWA (Football Writers Association) sogar zum Footballer of the Year gewählt worden ist. Die Journalisten haben die Bedeutung des Sechsers in Person von Kanté gewürdigt. Seine Leistungen waren jetzt nicht mehr zu übersehen.
N’Golo Kanté
Was zeichnet einen Sechser wie Kanté aus?
Ganz einfach: er gewinnt in der Defensive außerordentlich viele Zweikämpfe und vor allem Bälle zurück und ist dadurch derjenige, der die Offensive wieder einleitet. Deshalb ist er auch so wichtig für das Umschaltspiel einer Mannschaft.
Der Sechser schießt nur wenig (bis gar keine) Tore, gibt wenig (bis gar keine) ersten Assists, ist meistens nicht sehr groß gewachsen, trägt keine bestimmte Rückennummer, hat vielfach keine auffällige Frisur und häufig die wenigsten Tattoos von allen Spielern. Obwohl er ganz bestimmt kein unsichtbarer Spieler ist, fällt der Sechser erst dann auf, wenn er eben nicht am Feld steht. Wenn seine Mitspieler plötzlich nicht wissen, zu wem sie spielen sollen, wenn das Aufbauspiel oder ein schnelles Umschaltspiel nicht gelingen will, sich Fehlpässe des gesamten Teams häufen, weniger Zweikämpfe gewonnen werden und sogar vermeintlich schwächere Gegner auf einmal mehr so genannte zweite Bälle gewinnen.
Liverpools Sechser vs. Fernandinho, Jorginho
Teilen sich zwei oder gar mehrere Spieler diese Rolle, weil die Position zwischen den Spielrunden rotiert wird, wie es, speziell in dieser Saison beim FC Liverpool der Fall ist, ist ein Ausfall eines bestimmten Spielers auf dieser Position natürlich leichter zu verkraften. Fabinho, Georginio Wijnaldum, James Milner und Jordan Henderson substituieren sich gegenseitig vorzüglich. Egal, ob sie alle am Platz stehen, oder nur zwei von Ihnen. Vielleicht ist Wijnaldum in dieser Saison die bislang wichtigste Sechser-Figur beim FC Liverpool, aber er ist bestimmt nicht der eine, solitäre, Sechser.
Was uns zum derzeit Zweitplatzierten und regierenden Meister führt. Manchester City hat wiederum genau diesen solitären Sechser, der nicht so einfach zu ersetzen ist: Fernandinho. Kaum jemand hätte ihn im letzten Jahr als Meistermacher bezeichnet, obwohl er wahrscheinlich die beste Saison seiner Karriere spielte. Die Journalisten wählten übrigens Mohamed Salah zum Footballer of the Year. Kevin De Bruyne blieb in dieser Wertung der zweite Platz, und ein weiterer City-Spieler, Leroy Sane, wurde zum besten Jungspieler der Premier League gekürt. Der City-Sechser hingegen wurde bei diesen Lobpreisungen wiedermal übersehen.
ie wichtig Fernandinho für seinen Verein aber tatsächlich ist, merkte man vergangenen Dezember – als er nämlich fehlte. Zwar stand er bei der ersten Meisterschaftsniederlage von Manchester City gegen FC Chelsea an der Stamford Bridge am Platz – bei diesem Spiel schoß übrigrens N’Golo Kantè als Achter das wichtige erste Tor (wahrscheinlich weil er von den City-Spielern übersehen wurde) – bei den später folgenden zwei Heimniederlagen gegen die Wolverhampton Wanderers und Leicester City stand er seinem Team aber nicht zur Verfügung. Pep Guardiola konnte ihn nicht ersetzen, obwohl er es mit drei gelernten Innenverteidigern und Ilkay Gündogan im Aufgebot versuchte. Die defensive Ordnung von Manchester City ging ohne Fernandinho verloren.
In dieser Meisterschaftsphase – die Spieltage 15 bis 19 – setzte sich der FC Liverpool entscheidend von allen anderen ab, gewann das Momentum und vor allem den kollektiven mentalen Vorteil. Seither liegt es an den Verfolgern, und vor allem an Manchester City, eine mögliche Gegenphase einzuleiten. Das direkte Aufeinandertreffen der Topplatzierten konnte City zwar für sich entscheiden, aber eine Gegenphase ist einfach noch nicht zu erkennen.
Wobei eines sicher scheint, ohne Fernandinho kann eine solche Gegenphase nicht gelingen. Und sollten sie, wie es derzeit aussieht, den Titel nicht verteidigen können, dann deshalb, weil ihr Sechser in der entscheidenden Phase nicht spielen konnte.
Der FC Chelsea wiederum bräuchte für eine Gegenphase zu ihren Gunsten nicht nur ihren Sechser in Bestform. Die Rollenauslegung von Jorginho ist anders als jene eines Fernandinhos oder Kantés (als Sechser). Er müsste das Umschaltspiel seines Teams wesentlich beschleunigen. Ob ihm das gelingen kann und er die dafür nötigen Reserven hat, muss aus jetziger Sicht eher bezweifelt werden.
Die Spurs
Bei Tottenham Hotspur wird der Sechser momentan am ehesten von Harry Winks gespielt. Praktisch ist es aber bei fast jedem Pochettino-Aufgebot eine Doppel-Sechs. Dier-Dembele, Winks-Sissoko, zur Abwechslung vielleicht rotierend oder in einer Kombination mit Wanyama, Vertonghen etc. Nur bringt die (hier wahrscheinlich eher aufgezwungene) Rotation des Sechsers, im Gegensatz zu Liverpool, der Mannschaft keine Sicherheit.
Die Meistermacher
Der exzellente Sechser bzw. der Spieler auf der Sechserposition bringt dem Team jedoch die nötige Sicherheit, speziell der Verteidigung. Somit ist er für die gesamte defensive Organisation ausschlaggebend.
Es muss nicht unbedingt den solitären Sechser im Team geben, um englischer Meister zu werden. Hat man hingegen einen solchen Spieler in den Reihen, kann man ohne ihn nicht Meister werden.
Der Sechser ist in der Premier League wichtiger als der beste Torschütze der Saison, wichtiger als der beste Vorbereiter und der Tormann mit den meisten Spielen ohne Gegentreffer.
Zum Schluss noch eine Prognose: sollte der FC Liverpool am Ende der Saison als Meister feststehen, werden höchstwahrscheinlich Mohamed Salah, Alisson Becker, Virgil van Dijk, Andrew Robertson und natürlich Jürgen Klopp (nicht zwingend in dieser Reihenfolge) als die Meistermacher gefeiert und die Sechser Wijnaldum, Fabinho, Jordan Henderson und James Milner in ihrer Wichtigkeit übersehen. Ihre wahre Bedeutung wird erst in der kommenden Saison zum Vorschein kommen, selbstverständlich erst dann, wenn sie nicht spielen. Und vielleicht wissen wir auch erst im Herbst, ob es nicht doch den solitären Sechser beim FC Liverpool in der Saison 2018/19 gegeben hat – d e n Meistermacher nämlich.
Egon says
Ich habs erst Heute 9.2. gelesen – finde ich eine Superanalyse